Suchtberater des Gesundheitsamts über die Risiken der Bildschirmmedien
Mittlerweile nutzt auch ein Großteil der Grundschüler die digitalen Bildschirmmedien: „Geräte wie Tablets, Spielekonsolen, Handys oder Computer gehören heutzutage zur ‚normalen‘ Freizeitausstattung von Kindern und Jugendlichen“, sagt Martin Seidl. Der Sozialpädagoge ist im Gesundheitsamt Rosenheim für Suchtprävention zuständig.
„Vor einigen Jahren, zum Beispiel, war Instagram noch ein ‚Privileg‘ für Schülerinnen und Schüler ab der 8. Klasse. Nun nützt jeder Fünfte in den 4. Klassen Instagram. Viele Viertklässler haben schon ein eigenes Handy, das nimmt jedes Jahr zu.“ Soweit es die Corona-Lage zuließ, war Martin Seidl im zu Ende gegangenen Schuljahr unterwegs. In 22 Schulklassen war der Fachmann für Suchtprävention zu Gast, vor allem in Grundschulen.
Durch die Corona-Situation verbringen Kinder noch mehr Zeit vor Bildschirmen. Sie konsumieren über Stunden sehr viele Bilder oder Filme, die bewusst oder unbewusst Einfluss auf Wünsche, Werte und Verhalten haben. „Je länger die Bildschirmzeit ist, desto kürzer ist die Zeit mit echten Vorbildern, Freunden und den Eltern“, meint Seidl. Während in der Vergangenheit das Angebot an Bildmaterialien wesentlich geringer war und meist über renommierte Anbieter vertrieben wurde, beschreibt Seidl die Gegenwart als ein endloses Meer an angebotenen, teils retuschierten Bildern über unzählige Kanäle, die im Netz wenig kontrolliert werden. Diese Inhalte sind ein wesentlicher Lerninhalt des Workshops für Viertklässlerinnen und Viertklässler.
Der Sozialpädagoge wirbt darin unter anderem für das Buch und zeigt dessen Vorteile auf: „Beim Lesen lernen Kinder ‚einzutauchen‘, statt wie im Internet quasi von Welle zu Welle zu surfen. Ein Buch hat keine Links, es kommen keine push up-Nachrichten und es hat ein natürliches Ende. Es fördert die Konzen-tration, währenddessen Texte und Filme im Internet zum Hin- und Herspringen einladen. Kinder werden oft abgelenkt oder animiert, zu weiteren Inhalten zu springen.“
Hier zitiert Martin Seidl den Psychiater und Dozenten von der Harward Medical School, Edward Hallowell: „Langjährige Multitasker trainieren sich eine Art chronische Aufmerksamkeitsstörung an. Sie haben ein hohes Maß an Abgelenktheit, innere Unruhe, und Ungeduld.“
Früher kamen Vorbilder vor allem aus dem eigenen Freundes- oder Familienkreis. Heute finden sie die Kinder vermehrt in den sozialen Medien. Seidl hält das für bedenklich, „weil man die Vorbilder aus dem Netz meist mit einer rosaroten Brille sieht und natürlich keine echte Beziehung zu ihnen pflegt.“
Alarmierend ist aus Sicht des Fachmanns für Suchtprävention auch die Zunahme der Nutzung von Onlinespielen. „Immer, wenn wir online sind, läuft im Hintergrund eine Tracking Software. Diese erkennt genau, wo, wann, wie lange, mit wem und was das Kind am Gerät macht. Diese Daten werden ausgewertet und dazu benutzt, die ‚User‘ zu einer höheren Verweildauer zu bewegen, denn unterm Strich bedeutet eine höhere Verweildauer mehr Umsatz. Unter den Top Ten der umsatzstärksten Apps sind in den letzten Jahren die meisten davon Onlinespiele.“
Vorsicht ist laut Martin Seidl auch dann geboten, wenn sich fremde Personen zum gemeinsamen Onlinespielen anbieten. Stiftung Warentest hat hier bereits Bedenken geäußert und stuft mehr als die Hälfte der Chaträume in den Spielekonsolen als bedenklich ein. „Kinder kennen die Möglichkeit mit anderen Spielerinnen und Spielern aus dem Netz online zu spielen schon sehr gut und nutzen sie immer öfter, auch weil es sehr bequem ist.“ Seidl erklärt weiter: „Onlinespieler können sich hinter einem falschen Profilbild verstecken und die Spieleanbieter kontrollieren das kaum.“
In den Workshops für die Drittklässler thematisiert Seidl vor allem den Unterschied von Computerspielen mit Spielen in der realen Welt. Kinder sollen die ganzheitliche Bedeutung des herkömmlichen Spiels erfahren und verstehen. So meinte eine Drittklässlerin nach dem Workshop: „In Minecraft kann die Figur, die ins Wasser springt, ja gar nicht wissen, wie kalt es ist.“ Herkömmliche Spiele und insbesondere das freie Spiel fördern das Miteinander, die Kreativität, die Bewegung, Motorik und alle Sinne.
„Wir wollen vom Gesundheitsamt aus die digitalen Medien für Kinder nicht verteufeln, aber jedes Alter hat seine eigenen Lern- und Entwicklungsschritte. Im Grundschulalter sollten analoge Freizeitbeschäftigungen und herkömmliches Spielen ein solides Fundament der Kinder fördern“, sagt der Leiter des Rosenheimer Gesundheitsamtes, Dr. Wolfgang Hierl.
Was können Eltern tun, um eine gesunde Entwicklung zu fördern? – Seidl bietet in seinen Elternvorträgen drei Bausteine an – nämlich zum Einen Kinder stärken, zum Anderen das Umfeld mitgestalten und weiters den Zugang zu den Geräten begrenzen und digitale Medien gezielt einsetzen.
Mehr Informationen finden sich unter
phonesmart-share.de.