Im Gespräch mit Lilo Lüling, Bereichsleitung der kommunalen Wohnungsnothilfe
Ein Jahr Pandemie hat das Leben aller Bürgerinnen und Bürger mehr oder weniger nachhaltig verändert. Eine viel zitierte Binsenweisheit, und doch ebenso wahr wie der häufig angebrachte Satz „Corona wirkt wie ein Brennglas, das die Probleme unserer Gesellschaft beleuchtet“. Das gilt auch für eine Personengruppe, die äußerst selten, auch in dieser Krisenzeit, im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit steht: von Obdach- und Wohnungslosigkeit betroffene Menschen.
Die letzten aktuellen Zahlen zu diesem Thema in Bayern stammen übrigens aus dem Jahr 2017. Zum Stichtag 30. Juni wurden im Freistaat 15 517 wohnungslose Personen registriert, die von den Gemeinden und von den Einrichtungen der freien Träger der Wohnungslosenhilfe untergebracht worden waren. Das entspricht einer Quote von etwas mehr als einer wohnungslosen Person je 1000 Einwohnerinnen und Einwohnern. In Rosenheim kümmert sich die Diakonie um diese Personengruppe und betreibt eine Obdachlosenherberge mit Erstberatungsstelle sowie vier Obdachlosenunterkünfte im Auftrag der Stadt Rosenheim.
Unsere Redaktion sprach mit Sozialpädagogin Lilo Lüling, seit Anfang 2020 Bereichsleitung der kommunalen Wohnungsnothilfe für die Stadt Rosenheim, über ihre Arbeit und über die Schwierigkeiten, mit der sie und ihr Team, seit Ausbruch der Pandemie zu kämpfen haben.
Frau Lüling, welche Arbeitsbereiche umfasst die Fachstelle ?
„Zu unserem umfassenden Aufgabengebiet gehört zunächst einmal als wichtiger Baustein die Fachstelle zur Verhinderung von Obdachlosigkeit (FOL). Wir werden oftmals bei Zwangsräumungen oder Wohnungskündigungen mit eingebunden. Und versuchen wirklich alles, um angesichts des derzeitigen Mangels an bezahlbarem Wohnraum die Wohnung zu erhalten. Dazu gehören natürlich eine umfassende Beratung, Hausbesuche sowie psychosoziale Betreuung auch über einen längeren Zeitraum.
Für Rosenheimer Bürgerinnen und Bürger, bei denen die Wohnungslosigkeit nicht abzuwenden ist, betreiben wir vier Unterkünfte im Auftrag der Stadt. In einer davon können auch Familien unterkommen. Insgesamt sind das ungefähr 75 Plätze.
Und natürlich gibt es dann noch unsere Herberge, die zunächst einmal allen Menschen Obdach bietet, egal ob sie Stadtbürger sind oder nicht, und das 365 Tage im Jahr. Unterstützt werden wir hier von einem Team auf 450-Euro-Basis Beschäftigter und Ehrenamtlicher mit Aufwandsentschädigung, die den Abenddienst von 18 bis 21 Uhr übernehmen,
Hier findet auch viermal in der Woche unsere Erstberatung statt, in der wir im persönlichen Gespräch mit den Betroffenen ihre Situation ausloten. Dann können wir gemeinsam, und im Austausch mit einem großen Netzwerk an Institutionen, Ämtern und sozialen Einrichtungen, erste Schritte einleiten. Etwa nötige Unterlagen und Nachweise sowie Unterstützung beantragen oder gesundheitliche, unter Umständen auch suchtbedingte, Probleme angehen. In der Herberge gibt es auch eine Kleiderkammer für alle Bedürftigen.
Unsere Statistik weist für das Jahr 2019 die Begleitung und Unterbringung von rund 150 Menschen und etwa 1500 Übernachtungen aus. Übrigens bieten wir auch etwa 60 Personen eine Postadresse. Eine wichtige Grundvoraussetzung, um mit offiziellen Stellen zu kommunizieren. “
Sie haben bald 20 Jahre Erfahrung in diesem Beruf und in der Begleitung von obdachlosen Menschen. Was führt Männer und Frauen in diese krisenhaften Lebenssituationen?
„Grundsätzlich sind die Gründe dafür so vielfältig und komplex, wie es auch das Leben ist. Doch diese Menschen verbindet oft ein einschneidender Verlust, der eines geliebten Menschen oder Angehörigen, des Arbeitsplatzes oder eben der eigenen Wohnung. Oder sie haben ein traumatisches Erlebnis zu verarbeiten. Das alles kann dazu führen, dass die Männer und Frauen ihre Handlungsfähigkeit verlieren, sich ansonsten bewältigbare Probleme zu einem unüberwindbaren Berg auftürmen. Das Schritt für Schritt aufzulösen und unsere Klienten dabei sachkundig und einfühlsam zu begleiten, das ist unsere Aufgabe. Ich erinnere mich an einen Fall, der uns gerade im letzten Jahr, also während der Pandemie, beschäftigt hat. Ein Mann um die 50 hat, nachdem er jahrelang auf der Straße gelebt hat, Hilfe bei uns gesucht. Auslöser war ein traumatischer Verlust eines engen Angehörigen. Er hatte keine Wohnung, keinen Job, keine Krankenversicherung, keine Familie zur Seite, nicht einmal einen Personalausweis oder Geburtsurkunde. Nach und nach konnten wir alle diese Schwierigkeiten regeln, Dokumente beschaffen und gemeinsam eine tragfähige Perspektive für sein weiteres Leben erarbeiten.
Übrigens wird das Thema Einkommensarmut, gerade auch bei Familien in der Pandemie, immer drängender. Außerdem beobachten wir einen immer größeren Anteil an jungen Erwachsenen zwischen 18 und 25 Jahren, die betroffen sind.“
Sie haben bereits das Thema Corona-Pandemie angesprochen. Wie hat der Virus Ihre Arbeit und das Leben der obdachlosen Menschen im letzten Jahr verändert?
„Gerade die Anfangszeit zu Beginn der Pandemie im März letzten Jahres war eine unglaubliche Herausforderung für uns alle. Natürlich waren wir auch während des Lockdowns persönlich immer da, Herberge und Unterkünfte waren immer offen. Es galt Hygienekonzepte zu entwickeln, Abstände einzuhalten, Masken und Desinfektionsmittel zu beschaffen und deren Anwendung zu erklären und umzusetzen. Schwer zu schaffen machte es, dass wichtige andere Einrichtungen, Ämter, Suchtberatungen, Kliniken, Reha-Einrichtungen und vieles mehr, geschlossen oder auf Online-Betrieb umgestellt haben. Die Weitervermittlung unserer Klientinnen und Klienten gestaltete sich fast unmöglich.
Inzwischen hat sich nach einem Jahr alles natürlich eingespielt, doch manche einschneidende Maßnahmen sind geblieben. Das beginnt bei den Platzbeschränkungen in Herberge und Unterkunft, um Abstandsregeln einhalten zu können. Auch der Tagesaufenthalt von wohnsitzlosen Menschen, die die Herberge von Zeit zu Zeit nutzten, um ihre Wäsche zu waschen, zu duschen, oder sich Essen warm zu machen, ist seit einem Jahr nicht mehr möglich. Sehr dankbar sind wir in diesem Zusammenhang der Stadt Rosenheim, die seit 1. Dezember letzten Jahres angesichts der begrenzten Platzverhältnisse drei Kälteschutzräume in der Innenstadt zur Verfügung gestellt hat. Die Belegung dieser Räume, die ebenso wie die Herberge im Winter nicht abgesperrt sind, organisieren wir.
Ehrenamtliche Helfer
Übrigens freuen wir uns sehr über Menschen, die unsere Arbeit unterstützen wollen, egal ob mit Spenden oder als ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Informationen dazu geben wir gerne unter Telefon 0 80 31/ 39 52 25 oder E-Mail an wohnungsnotfallhilfe@sd-obb. de.“
Franziska Finsterwalder